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Wespennest Backlist
Andrea Roedig
Pest und Polio

Taugt COVID-19 zum großen Roman? Es ist weder Pest noch Polio, sondern konfrontiert uns mit einem „kleinen Virus des Vielleicht“, wie Andrea Roedig konstatiert. Die Schreibwut jedenfalls sei ungebrochen, auch der Besitzer des Schreibwarenladens um die Ecke sagt, die Leute würden Stifte und Hefterl wie verrückt kaufen, es fehle lediglich der Nachschub aus China. Dabei gibt es mit Albert Camus’ Pest und Philip Roth’ Nemesis längst denkwürdige Seuchenliteratur.

Die Corona-Pandemie hat dem Roman Die Pest von Albert Camus bekanntlich einen veritablen Boom verschafft. Vielleicht war er eines der meistgelesenen oder -gehörten Bücher des Jahres. Weniger beachtet, aber genauso gut in diese Zeit und ins Genre „denkwürdige Seuchenliteratur“ passt Philip Roth’ Nemesis – hier geht es um das Poliovirus, das sich im Sommer 1944, genau als die amerikanischen Truppen in der Normandie landen, um Hitlerdeutschland zu bekämpfen, in der Stadt Newark/New Jersey, ausbreitet und gnadenlos ein Kind nach dem anderen tötet. Literarisch besonders ergiebig ist der Beginn von Seuchen: Dieses erst langsame und sich dann beschleunigende Näherrücken, die Unwissenheit über die Verbreitungswege, die Wahllosigkeit, mit dem das Virus den einen oder die andere trifft, die Hilflosigkeit der sich gegeneinander abschottenden gesellschaftlichen Parzellen und das gärende Misstrauen gegeneinander. Wer verbreitet denn Polio? Die Mücken? Der Dorfdepp, der sich nicht richtig wäscht und allen die Hand gibt? Die Italiener, die auf den Sportplatzboden spucken und „We are spreading Polio“ rufen oder die Juden? Großartig baut Philip Roth seine Hauptfigur auf, einen engagierten Sportlehrer, der aufgrund einer Sehschwäche nicht als Soldat gegen die Deutschen kämpfen darf, aber daheimgeblieben einem viel heimtückischeren Feind gegenübersteht. Er ist ein Held – ähnlich dem Doktor Rieux in Camus’ Pest –, den mit antiker Grausamkeit seine Bestimmung trifft.


Schreibwut, Schreibflut

Vielleicht sollten wir mehr lesen als schreiben in diesen Zeiten, denn es steht schon alles da, alles, was die Essenz einer Seuche ausmacht. Aber ist schon alles gesagt? Was ist jetzt anders als zu Zeiten der Pest, Cholera und Spanischen Grippe? Wie fassen wir, was wir nicht schon kennen? Die Aufregung der ersten Zeit der Corona-Pandemie hat eine Textproduktion sondergleichen in Gang gesetzt, offenbar nicht nur digital. Der Besitzer des Schreibwarenladens um die Ecke sagt, es renne richtig gut, seitdem er wieder aufsperren durfte, er könne sich nicht beklagen, die Leute kauften Stifte und Hefterln wie verrückt, immer noch, nur der Nachschub aus China fehle. Alle wollten schreiben, alle mussten erzählen, es war, als hätten alle auf einmal das gleiche Schicksal.

Nach der Schreibflut kommt das Schweigen, oder zumindest die Erschöpfung, es lässt sich über das Neue gerade nicht viel Neues sagen, der Umgang mit dem Virus wird zur – wenn auch wackeligen – Routine. COVID-19 ist nicht Pest und Polio, diese Pandemie ist schlimm und doch harmloser als die spitze Bedrohung, die von einer mit archetypischer Todesfurcht belegten Seuche ausgeht. Genau das ist so zeitgemäß an ihr. In den Romanen von Camus und Roth ist die tödliche Infektion verbunden mit großen Themen, mit Krieg und Gott und: dem Wetter. Die Hitze, die Polio aufleben lässt. Der Allmächtige, der all das nicht verhindert. 2020 hadern wir nicht mit Gott, sondern allenfalls mit dem Kanzler. Das Schicksal ist ein Managementproblem.


Das Labyrinth

Taugt COVID-19 zum großen Roman? Lässt sich das, was gerade geschieht, überhaupt erzählen? Es wäre höchstens eine Beschreibung schleichender Veränderung und der untergründigen Bedrückung einer hingehaltenen Katastrophe. Ein langer Nachsommer zermürbender Neunormalität. Es ist, als bewegten wir uns in einem breiten Labyrinth aus Plexiglasscheiben. Manche demonstrieren vor diesen transparenten Wänden, andere bewegen sich geschickt oder ergeben zwischen ihnen hindurch. Die Sicht ist frei, aber der Raum begrenzt. Freundschaften dünnen aus – das bedrückt mich am meisten. Unmerklich, aber stetig verfestigt sich der Rückzug auf die Kernbelegschaft des eigenen sozialen Umfelds, Familie, engste Vertraute. Im Kontakt zu Menschen, die weiter weg leben, in anderen Gängen des Labyrinths, ist nach den intensiven Mails, den langen Telefonaten des Frühjahrs eine Erschlaffung eingetreten. Wenn man nicht die Möglichkeit hat, sich zu sehen – im alten Sinn von physischer Begegnung – erlahmt die Bereitschaft, weiter miteinander zu reden.
Das große Schicksal, kleingerieben zur banalen Alltäglichkeit, heißt Bitterkeit oder Resignation. Philip Roth hätte Nemesis mit einem Paukenschlag beenden können, stattdessen erzählt er noch die Nachgeschichte eines verkrüppelten Helden, der sich selbst zur Nemesis geworden ist. Der Schluss fällt gegenüber dem Rest des großartigen Romans merkwürdig ab. Camus dagegen setzt den Paukenschlag. Die Pest in Oran zieht sich zurück, so unvermittelt, wie sie gekommen ist. Aber, betont der Erzähler, der tödliche Erreger schläft nur, er lauert in den Schränken, irgendwo zwischen der Wäsche, und er wird wiederkommen. Das ist der Horror. Ende offen.

COVID-19 ist nicht Pest, nicht Polio. Es geht hier um ein wirklich kleines Virus des Vielleicht. Vielleicht war dieser ganze Lockdown unsinnig, vielleicht kommt das dicke Ende einer „Zweiten Welle“ noch. Vielleicht trifft es auch dich, und wenn es dich trifft, verläuft die Krankheit vielleicht harmlos. Vielleicht nicht. In einer hochkomplexen Welt haben auch die kleinsten Ereignisse – unter Umständen – große Wirkung. Wir wissen es nicht. Vielleicht wird es doch eine Weltwirtschaftskrise geben. Vielleicht werden noch viele Menschen sterben. Als hingehaltene Katastrophe taugt SARS-CoV-2 – vielleicht – doch zum Roman.


Andrea Roedig, geb. in Düsseldorf, promovierte im Fach Philosophie. Von 2001 bis 2006 leitete sie in Berlin die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Wien, schreibt als freie Publizistin für diverse deutsche und österreichische Medien. Seit Mai 2014 Mitherausgeberin des wespennest. Ihr Essayband Schluss mit dem Sex erschien im März 2019 bei Klever.

01.10.2020

© Andrea Roedig / Wespennest


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